Die Regelung des Conterganstiftungsgesetzes (ContStifG), wonach auf die nach diesem Gesetz zu gewährende Kapitalentschädigung und Conterganrente Zahlungen angerechnet werden, die wegen der Einnahme thalidomidhaltiger Präparate von Anderen, insbesondere von ausländischen Staaten, geleistet werden (§ 15 Abs. 2 Satz 2 ContStifG) verstößt nach Überzeugung des Bundesverwaltungsgerichts gegen den Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz – GG -) und die Eigentumsgarantie (Art. 14 Abs. 1 GG). Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig hat deshalb beschlossen, dem Bundesverfassungsgericht die Frage der Vereinbarkeit der Anrechnungsregelung mit den genannten Bestimmungen des Grundgesetzes zur Entscheidung vorzulegen.
Der 1962 geborene Kläger lebt in der Republik Irland, deren Staatsangehöriger er ist. Er hat verschiedene körperliche Schädigungen erlitten, weil seine Mutter während der Schwangerschaft ein thalidomidhaltiges Präparat der G. GmbH eingenommen hatte. Seit Oktober 1972 bezieht er deshalb u.a. laufende monatliche Geldzahlungen (Conterganrente) nach dem Gesetz zur Errichtung der Stiftung „Hilfswerk für behinderte Kinder“ (Stiftungsgesetz), das durch das Conterganstiftungsgesetz abgelöst wurde. Seit Januar 2013 betrug diese 3 686 Euro. Außerdem erhält er wegen seiner thalidomidbedingten Schädigungen vom irischen Staat monatlich 1 109 Euro. Diesen Betrag rechnet die beklagte Stiftung seit August 2013 unter Verweis auf § 15 Abs. 2 Satz 2 ContStifG an und zieht ihn von der dem Kläger zustehenden Conterganrente ab. Durch das Stiftungsgesetz waren die privatrechtlichen Haftungsansprüche der Geschädigten aus einem 1970 geschlossenen Vergleich mit der Firma Grünenthal in Ansprüche gegen die öffentlich-rechtliche Stiftung umgewandelt worden. Von den über 2 500 Leistungsempfängern lebt etwa ein Zehntel im Ausland. Davon erhält nur ein Teil allein an die Thalidomidschädigung anknüpfende Leistungen des jeweiligen ausländischen Staates. Die gegen die Anrechnung gerichtete Klage blieb in beiden Vorinstanzen erfolglos.
Die Anrechnungsregelung, die nach ihrer rechtlichen Zielsetzung Zahlungen ausländischer Staaten erfasst und in ihren tatsächlichen Auswirkungen allein den Teil der ausländischen Geschädigten betrifft, der solche Leistungen bezieht, verstößt nach Überzeugung des Bundesverwaltungsgerichts gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Die Ungleichbehandlung, die darin liegt, dass die genannte Personengruppe die Conterganrente nur in verminderter Höhe erhält, ist sachlich nicht gerechtfertigt, weil sie unverhältnismäßig ist. Erklärtes gesetzgeberisches Ziel der Anrechnung ist die Vermeidung von Besserstellungen durch Doppelleistungen derjenigen ausländischen Berechtigten, die wegen der Einnahme von thalidomidhaltigen Präparaten neben der Conterganrente Zahlungen von Anderen erhalten. Hierzu ist die Anrechnung jedoch weder geeignet noch angemessen, weil bereits nicht erkennbar ist, dass sie dieses Ziel erreichen kann. Sie berücksichtigt nicht Art und Umfang der den Betroffenen in den unterschiedlichen Staaten gewährten allgemeinen Sozialleistungen, ohne die die Gesamtsituation der Betroffenen nicht beurteilt und deshalb eine „Besserstellung“ der ausländischen Geschädigten durch Leistungen Anderer nicht sachgerecht belegt werden kann. Zudem sind die Conterganrente und die Leistungen der ausländischen Staaten nicht vergleichbar, weil sie unterschiedliche Zwecke verfolgen und sich deshalb kategorial unterscheiden. Während die Conterganrente die ursprünglich wegen der Einnahme thalidomidhaltiger Präparate bestehenden privatrechtlichen Haftungsansprüche fortführt, fehlt ein solcher Zusammenhang bei den allein aus Fürsorgegründen erbrachten Zahlungen ausländischer Staaten, die gerade nicht aufgrund einer staatlich übernommenen haftungsrechtlichen Verantwortlichkeit gewährt werden.
Zudem verstößt die Anrechnungsregelung gegen die Eigentumsgarantie (Art. 14 Abs. 1 GG). Ansprüche nach dem Conterganstiftungsgesetz genießen nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts schon im Hinblick auf ihren Entstehungsgrund den Schutz der Eigentumsgarantie. Die Anrechnungsregelung stellt eine unzulässige, weil jedenfalls nicht gleichheitsgerechte Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums dar.
Weil das Bundesverwaltungsgericht als Fachgericht nicht befugt ist, die Verfassungswidrigkeit eines Parlamentsgesetzes selbst festzustellen, hat es das Verfahren ausgesetzt und die Frage dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vorgelegt.
BVerwG 5 C 2.20 – Beschluss vom 31. März 2021
Vorinstanzen:
OVG Münster, 16 A 44/16 – Urteil vom 02. Juli 2019 –
VG Köln, 7 K 7211/13 – Urteil vom 03. November 2015 –